Von Gleisküssern und Lokknutschern
Stefan Fellmuth ist außer Atem: Gerade ist er durch den ganzen Hauptbahnhof gelaufen, um am hintersten Ende von Bahnsteig 14 einem verirrten Passagier zurück aufs rechte Gleis zu helfen. Damit will er dem Mann den Glauben an das Gute im Allgemeinen und insbesondere an die Bahn zurückgeben.
Der Mittdreißiger Fellmuth ist Kundenservice-Manager bei der Deutschen Bahn, sein Arbeitsplatz umfasst 27.810 Quadratmeter Grundfläche. Sein schmuckloses Büro gleich in der Gepäckaufbewahrung und Fundsachenabteilung sieht er ausgesprochen selten. Als mobile Einsatzkraft kümmert er sich hier um alle Belange rund um das 'rollende Rad' wie es auf Bahndeutsch so schön heißt. Das hält ihn den ganzen Tag auf Trab - und schlank.
Hamburgs Hauptbahnhof zählt zu den ganz großen Durchgangstationen Deutschlands, etwa 450.000 Menschen passieren ihn Tag für Tag, das entspricht der Einwohnerzahl einer Großstadt. 1.700 Zugbewegungen gibt es täglich. Und auch nachts herrscht nur kurz Ruhe, wenn die Reinigungstruppe kommt, um Gleise und Bahnsteige zu säubern.
Der Hauptbahnhof ist ein Ort des permanenten Wandels, mit Willkommens- und Abschieds-, Trennungs- und Wiederkehrszenen. Zu den Verlässlichen an diesem Ort zählen Stefan Fellmuth und seine rund 400 Kollegen von der Bahn. Die Bahn ist Fellmuths Welt, seine Frau Claudia arbeitet ebenfalls hier - in der so genannten 'Keksdose', dem Bürobau der Bahn am Hauptbahnhof. Und auch dem vier Monate alten Junior wird schon im ersten Lebensjahr die Bahnfaszination im 'Miniatur Wunderland Hamburg' nahe gebracht.
Kollege Stefan Korth arbeitet in der Gepäckaufbewahrung. Er kennt sich mit Fehlschließern aus. Das sind die Menschen, die nicht das Schließfach, in dem ihr Koffer steht, verriegeln, sondern das daneben. Er übertrifft noch die Bahnleidenschaft von Stefan Fellmuth, denn er gehört zu den 'Schienenküssern' und 'Pufferknutschern', wie sich die Fans tonnenschwerer Loks selbst bezeichnen.
Der Hamburger Hauptbahnhof ist als Drehscheibe des Nordens ein wichtiger Knotenpunkt für alle 'Bahn-Infizierten': Sie wissen genau, wann ein bestimmtes Zugmodell ein- oder durchfährt, was in Bild und Ton als Sammlertrophäe festgehalten werden kann.
Urte Simon aus der Rechnungsstelle versteht die Faszination der Kollegen für die Bahn nur zu gut. Bei der Heirat mit ihrem Ralph im vergangenen Jahr musste der Standesbeamte auf den Turm des Hauptbahnhofs klettern. Nur hier wollte sie ihrem Mann das Jawort geben, einen romantischeren Ort kann sie sich nicht vorstellen.
'Kosmos' Hamburg Hauptbahnhof: Die Durchgangstation mit 75 Geschäften und Läden bietet alles, was man zum Leben braucht. In der Wandelhalle gibt es den Bahnhofsfriseur. Dabei handelt es sich nicht um jemanden, der Reisenden, die es eilig haben, im Alleingang die Haare schneidet. Ganz im Gegenteil: Im oberen Stockwerk des Bahnhofs hat sich das geräumige Frisierstudio einer großen Kette etabliert. Alle 25 Plätze sind immer bestens belegt. Viele sind Stammkunden, sie mögen die Atmosphäre des Aufbruchs und Umbruchs, schätzen den raschen Service ohne große Verweildauer.
Durch den imposanten Bau tönt eine Ansage, eine Dame möge sich bitte am Reisecenter in der Wandelhalle einfinden. Dank des Einsatzes von Stefan Fellmuth wartet dort ihr Ehemann, der sich ohne Handy im Bahnhofsgewirr verloren hat. Wiedersehensfreude und ein glücklicher Fellmuth, der die 'Kollegen von der Durchsage' besucht. Sie arbeiten am Högerdamm, haben keinen direkten Sichtkontakt zum Bahnhof, sondern sind über Kameras mit ihm verbunden. Noch heute sprechen sie über eine besondere Durchsage, die sie einmal neben den üblichen Verkündigungen über die Gleisanlage ertönen ließen: einen Heiratsantrag.