Aus der NZZ am Sonntag, 25.04.2004, Seite 7:
Beliebt sind Oberleitungen
Polens Staatsbahnen leiden unter dreisten Dieben
In den polnischen Armutsgebieten lassen kriminelle Banden staatliche Infrastruktur abmontieren. Betroffen sind vor allem die polnischen Eisenbahnen. Die Behörden sind machtlos.
Paul Flückiger, Warschau
Der Lokomotivführer im schlesischen Tarnowskie Gory muss geträumt haben. Trotz Schritttempo lag das tonnenschwere Gefährt plötzlich auf der Seite. Der Grund: Es fehlten die Schienen. Sie waren in der Nacht von Dieben abmontiert worden. Während die Polizei den leicht verletzten Lokführer befragte und die Staatsbahn eine Schadeneinschätzung vornahm, hatten die Banditen ihre Beute vielleicht schon an einen Altmetallhändler verkauft. Rund 2 Franken 65 kann man in Polen pro Kilo Alteisen lösen. Das ist etwa doppelt so viel wie der Stundenlohn einer Hilfskraft in einem Supermarkt.
Am meisten geklaut wird an den Eisenbahnknotenpunkten rund um Warschau, Danzig und Katowice. Hunderte von Güter- und Personenzügen durchqueren täglich allein das schlesische Steinkohlerevier. «Hoch spezialisierte Banden klauen auf Bestellung: Kohle, Benzin, Waggonteile, Beleuchtung, Drähte - alles, was nicht niet- und nagelfest ist», sagt der Vizechef der Bahnpolizei von Katowice, Krzysztof Krol. «Dazu kommen kilometerweise Eisenbahnschienen.» Krols 400 unterbezahlte und schlecht ausgerüstete Bahnpolizisten sind schon mit Dieben, die Waren aus Güterzügen stehlen, heillos überfordert.
Sieben Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in Katowice offiziell. In den Vororten Zabrze, Siemanowice, Bytom und Tarnowskie Gory sind es rund 30 Prozent. Rund um Warschau und Danzig sieht es nicht viel besser aus. Doch nicht allein die soziale Not sei verantwortlich für den Diebstahl, sagt Krol. Das Gesetz sei zu lasch; kaum sei ein Dieb gefasst, müsse er mangels Beweisen oder wegen zu geringer Schadensumme wieder laufen gelassen werden.
«Der Schienenklau ist noch unser kleinstes Problem», erklärt Krzysztof Lancucki von der für die Infrastruktur verantwortlichen Bahn-Tochtergesellschaft PKL. Bahnschienen würden zum Glück meist an den bereits stillgelegten Linien geklaut. Weit kostspieliger und gefährlicher seien Diebstähle an technischen Einrichtungen. Allein im Jahr 2002 wurden rund 1700 Elektromagnete geklaut. Diese sind wegen ihres hohen Kupfergehalts besonders begehrt. Sieben bis zehn Franken bezahlen Aufkaufstellen für Buntmetall pro Kilo Kupfer. Beliebt sind auch Oberleitungen. Rund 70 Kilometer kommen davon jährlich abhanden. Umgerechnet 5,1 Millionen Franken betrug laut Lancucki der Materialverlust der PKL im letzten Jahr. «Für Altmetall im Wert von ein paar Zloty werden Menschenleben aufs Spiel gesetzt», sagt Lancucki. Zudem komme es als Folge der Vandalenakte oft zu Verspätungen.
Kein Alteisenhändler ist verpflichtet, seine Zulieferer nach der Herkunft ihrer Ware zu befragen. Lancucki spricht von «Hehlerei». Im Auftrag der Bahn verteilt er an Alteisenhändler, die sich häufig in der Nähe der Bahntrassees befinden, Fotos mit den am häufigsten gestohlenen Elektro- und bahntechnischen Teilen. Ein solcher Altmetallhändler hat sein Geschäft in einer ehemaligen Papeterie im Warschauer Stadtteil Praga eingerichtet. Auf dem vergitterten Fenster ist von Fotokopien die Rede, doch das einzige Mobiliar des Ladens besteht aus einem groben Pult und einer Waage. Wenige Schritte hinter dem Lokal verlaufen die Schienenstränge, die zum nahen Ostbahnhof führen. Fremde sind hier nicht willkommen; man kennt seine Kunden.
Auf Handkarren schleppen sie an, was sich zu Bargeld machen lässt: Bierdosen, Elektroteile, Draht. Hinter dem Laden ziehen zwei Gestalten in abgewetzten Mänteln eine Karre über Schienen. Unter einem Pappdeckel lugt Altmetall hervor. «Alles lag dort hinten herum», erklärt einer der Männer rechtfertigend. Ein Schienenstück ist in der Ladung nicht erkennbar, dafür einige schwere Schrauben.